Sark – wo die Zeit stillgestanden ist

Wie komme ich auf die Insel Sark?

In den nebelverhangenen Gassen von St. Peter Port auf Guernsey, umgeben von Seebären und Seemännern, finde ich mich vor der Abfahrt zur Insel Sark wieder. Im “White Rock” versuche ich, mich in der skurrilen Atmosphäre zu akklimatisieren, während ein alter Seemann genüsslich sein Frühstück verzehrt. Doch auf Sark angekommen, eröffnet sich mir eine Welt, in der die Zeit stillzustehen scheint – eine Insel ohne Motorenlärm, Pferdekutschen als einzige Transportmittel und ein Abend unter einem Sternenhimmel, der jeden anderen Sternenhimmel in Europa in den Schatten stellt.

08.00 Uhr. Ich begebe mich durch die engverschlungenen Strassen von St. Peter Port, der kleinen, charmanten Hauptstadt der Insel Guernsey. Die Stadt liegt im tiefen Nebelschleier. Von fern hört man das Nebelhorn, mystisch und unheimlich. Ich erreiche den Pier, habe noch etwas Zeit vor der Abfahrt der Fähre und beschliesse, mir ein wärmendes Getränk im «White Rock» zu gönnen. Ich trete ein und spüre sofort, wie sich die Blicke auf mich richten. Ich bin ein Fremdkörper in dem von Seebären besetzten Lokal. Da sitzen Hafenarbeiter, Fischer, Matrosen und Kapitäne, deren Leben auf dem kleinen Eiland sich in erster Linie nach den Launen der See richtet. Ich finde an einem kleinen Tischchen einen guten Platz, um die skurrile Atmosphäre auf mich einwirken zu lassen. Schräg gegenüber sitzt ein älterer Herr, der genüsslich sein «scrambled eggs» mit Bohnen und Toast verzehrt und mich dabei immer freundlich angrinst. Seine Haut ist von der Sonne und der Gischt gegerbt. Ich labe mich am Kaffee und vergesse nicht das Stugerol gegen meine Seekrankheit einzunehmen, bevor ich mich zum Kai aufmache und das kleine Boot nach Sark besteige.

Fährenüberfahrt nach Sark

Langsam tuckert das Boot aus dem Hafen, vorbei an der kleinen Insel Herm. Am Horizont ragt majestätisch die Insel Sark aus den Wogen des Ärmelkanals. Das Wetter hat zwischenzeitlich aufgeklart, und sanfte Sonnenstrahlen beleuchten das Plateau der lediglich 5.5 km2 grossen Insel.

Inselparadies ohne Motorenlärm

Nach 50-minütiger Überfahrt erreicht das Schiff sein Ziel. Am Hafen gucke ich mich nach einer Transportmöglichkeit um, welche mich zu meiner Unterkunft bringen soll. Doch da ist weit und breit keine Mitfahrgelegenheit. Deshalb erlaube ich mir, einen einheimischen Fischer, welcher von der Mole aus Makrelen fischt, zu fragen, wo ich wohl ein Taxi fände. Dieser lacht lauthals und sagt «Welcome to Sark, the island where the time stands still.» («Willkommen auf Sark, der Insel, auf der die Zeit stillgestanden ist.») Ich überlege mir, was diese Antwort soll, als des Rätsels Lösung gleich mitgeliefert wird. Es wird mir erklärt, dass es hier keine motorisierten Fahrzeuge gäbe, als Ausnahme zähle lediglich der Traktor mit Anhänger, welcher die verwöhnten Touristen die steile Anhöhe vom Hafen zum Finanzdistrikt hochfahre. Anschliessend solle ich mir die Pferdekutsche zum Hotel gönnen. Ich danke ihm für die Hilfe und nutze die Mitfahrgelegenheit mit dem Traktor. Angekommen im Hauptort ohne Namen, welcher von den Einheimischen lediglich «The Village» genannt wird, muss ich über den Humor des Fischers lachen. Der sogenannte Finanzdistrikt entpuppt sich als eine Ansammlung von 15 Häusern mit einem kleinen Postoffice und einer Zweigniederlassung einer auf Guernsey domizilierten englischen Bank.

Inselerkundung auf zwei Rädern

Die Pferdekutsche bringt mich samt Gepäck in das familiär geführte, inseltypische Hotel Stocks Island. Der Besitzer Paul, wartend auf Gäste, begrüsst mich freundlich und lädt zum Tee ein. Ich nutze die Gelegenheit und frage ihn, was ich denn von der Insel sehen soll. Er rät mir, ein Fahrrad zu mieten, wenn möglich eines mit guter Bereifung, da die Strassen eher Feldwegen glichen und Asphalt nicht in diese Welt gehöre.

Als erstes solle ich aber durch das Dixcart-Tal fahren, im Moment seien die «Bluebells» (Glockenblumen) in voller Blüte, und die Dixcart-Bucht sei absolut sehenswert. Auf jeden Fall dürfe auch ein Besuch der «La Seigneurie», des Herrenhauses mit prächtiger Gartenanlage des Lehnherrn von Sark, nicht fehlen. Ach ja, auch hier sei die Zeit stehengeblieben: Sark gelte als letztes Bollwerk des Feudalismus. Der sogenannte Seigneur (Kronvasall) sei einzig dem britischen König Rechenschaft schuldig.

La Coupée

Anschliessend solle ich unbedingt Little Sark besuchen, welches durch den spektakulären Felsengrat «La Coupée» erreicht wird. Wenn ich schon da sei, soll ich bei Elizabeth im «La Sablonnerie» einkehren und die besten Grüsse von ihm ausrichten, er hätte sie schon lange nicht mehr gesehen. Ich folge seinen Empfehlungen, welche sich als sehr wertvoll erweisen.

Fangfrischer Hummer

Am frühen Abend treffe ich dann tatsächlich auf Elizabeth. Sie besitzt ein Restaurant mit Hotel in einem ehemaligen Bauernhof aus dem 16. Jahrhundert, wunderschön in einen üppigen Garten eingebettet. Die quirlige, nobel wirkende Dame stellt sich als amüsantes und neugieriges Plappermäulchen heraus, mit dem Sinn für das gute Essen. An einem lauschigen Plätzchen im Garten mache ich es mir gemütlich und geniesse ein sensationelles Gericht – Muscheln und fangfrischen Hummer – bei einem Glas Sancère.

Ein Sternenhimmel wie sonst nirgendswo

Auf dem Heimweg ist es schon dunkel geworden, jedoch bin ich erstaunt über den Sternenhimmel: So klar habe ich ihn bis anhin nirgends in Europa bestaunen können. Zurück bei Paul im Stocks, erzähle ich ihm von diesem wunderschönen Nachthimmel. Er lächelt und sagt, dass dies daran liege, dass Sark fast keine Luft- und wegen der fehlenden Strassenbeleuchtung auch keine Lichtverschmutzung habe. Zudem sei das Observatorium auf Sark bekannt für seine Himmelsbeobachtungen. Ich werde neugierig und frage, wann dieses jeweils geöffnet sei. Er meint, Öffnungszeiten gebe es keine, aber er rufe seinen Freund an und teile ihm mit, dass ich in 15 Minuten im Observatorium sei. Verblüfft nehme ich sein Angebot an. Nachdem er vom Telefon zurückkehrt, frage ich ihn noch, bis wann die Bar geöffnet habe, da ich gerne vor dem Zubettgehen einen Gin zu mir nehmen würde. Die Antwort erstaunt mich nicht mehr wirklich: «Ich lösche das Licht um 21.30 Uhr, ich lass die Bar aber einfach auf. Du bedienst dich und sagst mir am Morgen, was du konsumiert hast.»

Auch hier liegt Paul richtig, der Besuch im Observatorium ist ein krönender Abschluss eines gelungenen Tages. Am nächsten Morgen heisst es leider schon wieder, von Sark Abschied zu nehmen. Mit vielen Erinnerungen und dem Eindruck, ein Stück vergangene, heile Welt gefunden zu haben, kehre ich nach Guernsey zurück.

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